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Dass Erdogan angesichts der Jerusalem-Frage derzeit wenig Interesse hat, Uneinigkeit mit Papst Franziskus zu markieren, lässt sich auch daran ablesen, dass sein Unmut über das Thema Armenier-Genozid völlig in die zweite Reihe gerückt zu sein scheint


Gastautor Thorsten Benner ist Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.

Altkanzler Helmut Schmidt nannte die Rhetorik von Israels Sicherheit als deutscher Staatsräson 2010 eine "gefühlsmäßig verständliche, aber törichte Auffassung, die sehr ernsthafte Konsequenzen haben könnte". Die letzten Monate nach der Zäsur der Massaker der Hamas-Terroristen gegen israelische Zivilisten geben Schmidt recht und verdeutlichen die Unvernunft der von Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 in einer Rede vor der Knesset eingeführten Staatsräson-Formel. Nicht weil, wie von Schmidt befürchtet, deutsche Soldaten zur Verteidigung Israels in den Krieg gezogen wären. Sondern weil die Rede von der Staatsräson den Blick trübt: den von außen auf die vielfach durchaus differenzierte deutsche Israel-Politik und bisweilen auch den vieler deutscher Entscheidungsträger für die richtige Kommunikation und Positionierung. 

All das richtet vermeidbaren innen- wie außenpolitischen Schaden an – und hilft am Ende auch Israel nicht. Der Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock in Israel und die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz diese Woche bieten die Gelegenheit, eine kommunikative Abkehr von der Staatsräson-Formel einzuleiten.

Zwei Ereignisse der letzten Monate illustrieren die von der Staatsräson-Rhetorik verzerrten Außenwahrnehmungen. Ende Oktober 2023 griff Israels Botschafter Ron Prosor die Bundesregierung nach der Enthaltung in der UN-Generalversammlung bei einer Gaza-Resolution, bei der Deutschland im Sinne Israels Verbesserungen verhandelt hatte, scharf an: "Die Staatsräson bedeutet, gerade in schwierigen Zeiten an der Seite Israels aktiv zu stehen." Die deutsche Positionierung sei "moralisch falsch und die Geschichte wird darüber urteilen". Anfang Januar dieses Jahres begründete die fehlgeleitete Initiative Strike Germany den Boykottaufruf von Kulturschaffenden gegen Deutschland damit, kein anderer Staat habe "die bedingungslose Unterstützung von Israel zur 'Staatsräson' gemacht – und zur Voraussetzung zur Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben".

Staatsräson hört sich an, als ob alle weiteren Fragen unnötig wären

Das Resultat: Künstler auf dem Holzweg boykottieren Deutschland für eine angeblich bedingungslose Unterstützung Israels, die auch der israelische Botschafter einfordert, Deutschland aber natürlich nicht liefert, weil das Interesse der israelischen Regierung (wie im Falle der UN-Abstimmung) eben nicht immer deckungsgleich mit dem Interesse Deutschlands ist. Das ist eine absurde Gemengelage.

Doch das Problem geht noch tiefer. Die Massaker der Hamas erschütterten deutsche Entscheidungsträger zu Recht bis ins Mark. Sie stellen das nach der Shoah von Deutschland unterstützte Gründungsversprechen Israels infrage: nie wieder massenhaftes Abschlachten von Jüdinnen und Juden zuzulassen. In dieser Situation liegt es nahe, auf Merkels Staatsräson-Formel zurückzugreifen. Schließlich hatte Merkel selbst formuliert: "Und wenn das so ist, dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben." Merkel hat ihre Formel in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft nie näher ausgeführt. Es sei um etwas "Grundsätzliches, nicht Verhandelbares" gegangen, lässt sie heute wissen

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Das klingt nach etwas, das Klarheit, Gewissheit und Orientierung verspricht. Wahrscheinlich genau in dieser Hoffnung auf Klarheit, Gewissheit und Orientierung formulierte Merkels Nachfolger Olaf Scholz (PDF) in seiner Bundestagsrede fünf Tage nach dem Massaker: "In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson." Das hört sich an wie absolute Klarheit. Als ob alle weiteren Fragen unnötig wären.

Doch so glasklar die Verantwortung der Hamas und Israels Recht auf Selbstverteidigung sind, so stellen sich seit dem 7. Oktober eine Vielzahl offener Fragen, die auch in der israelischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden: Was ist der klügste Weg zur Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung? Was sind realistische Ziele? Tappt Israel in die Falle der Terroristen, wenn es sich das Ziel der kompletten Eliminierung der Hamas setzt? Priorisiert Premier Netanjahu den eigenen Machterhalt gegenüber dem Überleben der israelischen Geiseln? Nutzen radikale Siedler im Westjordanland die Situation für Gewalttaten gegen Palästinenser aus? Wie kann man am besten Zivilisten in Gaza schützen im Krieg gegen eine Terrorgruppe, die systematisch Zivilisten als Schutzschilde missbraucht? Besteht die Gefahr, dass Israel Kriegsverbrechen der Hamas mit eigenen Kriegsverbrechen beantwortet?

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661 Kommentare

 

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S

Safiranja



vor 4 Tagen


Wie kann man am besten Zivilisten in Gaza schützen im Krieg gegen eine Terrorgruppe,...

Schon die Frage ist bigott und bewußt fehlgeleitet. 77% aller Palästinener (Umfrage Januar) unterstützen die Hamas. Ein Journalist sollte das wissen, bevor er sich gegen Israel wendet.


 

J

Jodaner



vor 4 Tagen


Das musste genauso längst gesagt werden! Danke. Aber der Blankoscheck war nicht nur ein großer Fehler, weil er Deutschland in einem falschen Licht darstellt, sondern weil er die (israelische) Regierungspolitik rechts von der AfD zum Weitermachen ermuntert hat. Die Bundesregierung sollte unsere Unterstützung klar an Bedingungen knüpfen: Verhältnismäßigkeit, Humanität, Völkerrecht, natürlich Zweistaatenlösung, … Was wir von Russland erwarten, gilt auch für Israel. Wir können neues Leid nicht mit unserer historischen Schuld rechtfertigen.


 

w

wersdgwrb



vor 4 Tagen


2024 und Israels Sicherheit ist in der ZEIT keine Staatsräson mehr.


Aber klar, die AfD ist das Problem.


 

m

mzhasy



vor 3 Tagen


Warum darf in Deutschland keine Kritik an Israel geübt werden?

Wenn dann doch, wird sofort die Antisemitismuskeule geschwungen und jede Diskussion im Keim erstickt.

Wir sind nicht in einer permanenten Schuld Israel gegenüber, wie uns dauernd, Narrativ untergeschoben wird.


 


P

Pissenlit



vor 3 Tagen


Zur "Staatsräson" gehörte es auch, die Hamas indirekt zu finanzieren. Ob die Antisemiten, die gerade bei uns Sturm laufen, auch noch Schützenhilfe aus dem antisemitischen Globalen Süden oder aus der linken Kulturszene bekommen, muss uns nicht weiter interessieren. Es traurig, dass im Gaza-Streifen so viele Zivilisten sterben, aber das ist der "meatshield"-Taktik der Hamas geschuldet. In Rafah gibt es vermutlich auch noch die restlichen Geiseln, wo sollen sie denn sonst sein. Ich bin auch kein Freund von Netanyahu, aber der ist nach dem Krieg weg. Israel ist dann immer noch da und wenn die Palästinenser irgendwann begreifen, dass es nicht besonders intelligent war, Hamas zu wählen, werden auch sie eine Zukunft haben.


 

s

splashX



vor 3 Tagen


Es gibt einen Unterschied zwischen Staatsräson und Nibelungentreue. Aber trotzdem: Die Hamas ist wie Krebs - lässt man was übrig, wuchert es schnell wieder und wird tödlich.


 

K

KeinFreierNutzernameGefunden



vor 4 Tagen


Das ist aber witzig. Bitterböse. Ein solcher Kommentar in der ZON? Da wurde anfangs alles an Leserkommentaren gelöscht, das nur vage in diese Richtung zeigte. Und politisch war die vorgetragene Haltung so eindeutig bzw. die pauschale Verurteilung anderer Meinung so spürbar, dass ich mich einer Äußerung enthielt.

Ich habe eine "Staatsräson" immer kritisiert, an sich. Unklar ist, was sie sein soll oder welche Bedeutung aus ihr folgt. Aber vor allem hielt ich den Ansatz grandios dämlich, nämlich im Sinne eines: Wir lernen nichts aus Geschichte. Ja, natürlich, Deutschland steht aufgrund seiner Vergangenheit in einem besonderen Verhältnis dar. Manches könnte sich aus einer Schuld als verpflichtend erweisen. Aber alles und quasi zwangsläufig? Das ist Verrat an der Aufklärung. Das ist sogar äquivalent zu einer Haltung, wir stehen zur katholischen Kirche zu Beginn der Reformation. Oder eben auch - und ich hoffe, dass kein untergeordneter ZON-Mitarbeiter dies löscht - zu einem Willen, dem "Führer" zu folgen.

Man muss differenzieren! Man muss auch bereit sein, aus der Geschichte so zu lernen, dass Geschichte Dinge verändern kann. Israel ist heute nicht einfach die Fluchtoption für Juden, sondern eine Nation, die man auch nach der Handlung ihrer teilweise nationalistisch-rechten-religiösen Regierung kritisieren können muss!


 

zc

zeno_cosini



vor 3 Tagen


Ein ausgewogener und berechtigter Beitrag.

All die aufgeworfenen Fragen darf man normalerweise in einem Kommentarforum nicht stellen.

Gut, dass die Bundesregierung vielfältiger ist, als manch Worte erscheinen.

Merz besucht als "künftiger" Bundeskanzler Netanjahu. Das ist eine legitime Art, sich in der Welt bekannt zu machen.

Ich finde es aber verstörend, wenn ein Jurist davon spricht, Menschen militärisch "vernichten" zu müssen, selbst wenn es die Hamas sein soll.

In einem Moment, in dem andere Staaten gegen Notwehrexzess argumentieren.

Es ist naiv, weil man sich terroristischen Nachwuchs "heranzüchtet", wenn man inhuman und unterschiedslos Millionen Menschen von einer eingekesselten Lage in die Nächste treibt und ihnen nicht das Nötigste zum Leben lässt, ihren Tod in Zehntausenden in Kauf nimmt.

An einem Tag, an dem es keinen humanitären Flucht- und Versorgungskorridor in Rafah gibt, sind solch anbiedernde Aussagen unpassend und verantwortungslos.

Wenn ich die israelischen Familien sehe, die seit fünf Monaten um ihre entführten Angehörigen fürchten und darum kämpfen, dass ihnen Priorität eingeräumt wird, man Netanjahu und den Koalitionspartner sieht, die das anders handhaben, hat man nicht den Eindruck, es ginge um den Schutz der Israelis. Man kann sich nicht vorstellen, wie überlebende Geiseln jemals wieder seelisch und körperlich gesund werden können. Dass wünsche ich ihnen und hoffe, dass weitere Geiseln überleben.

Ein sicheres Israel kann man so nicht erreichen.


 


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4 Wochen f


    16.02 2        https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-02/deutschland-nahostkonflikt-israel-staatsraeson-sicherheit

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